»Wenn ich nicht weggehe, sind wir bald tot!«
Die Lebensgeschichte der Jesidin Irina handelt von Zwangsheirat, Demütigung, Gewalt und Verfolgung. Mitten in Deutschland war sie einer patriarchalischen Parallelgesellschaft ausgeliefert. Doch die junge Frau befreit sich aus der ihr aufgezwungenen Ehe. Ein unfassbarer Überlebenswille, Mut, die Kraft ihrer Wut und Entschlossenheit und ihre Sehnsucht nach Freiheit führen sie in ein selbstbestimmtes Leben. Auf diesem Weg hatte sie das Glück, in entscheidenden Momenten die richtigen Menschen zu treffen, die ihr geholfen haben.
Prolog
„Wie bitte? Was möchten Sie?“ Der Mitarbeiter in der Ausländerbehörde starrt mich an, als ob ich um etwas Ungeheuerliches gebeten hätte. Und ich rufe dieses Ungeheuerliche erneut über den Schreibtisch. „Ja, ich will die Abschiebung!“
Der Mann mit dem schütteren blonden Haar nimmt seine Brille ab, mustert mich verdutzt. „Wissen Sie, “ sagt er dann langsam, „normalerweise kommen Menschen zu mir und bitten mich, bleiben zu dürfen….“ Er schüttelt den Kopf. „Hier wird niemand so einfach abgeschoben.“
Meine Beine beginnen zu zittern in dieser Endstation Hoffnung. Halt suchend umklammere ich die kleinen Hände meiner beiden Kinder. Ich schaue erst Sophia an, dann Lukas, sehe ihre ängstlichen Augen, spüre, wie sie sich ganz nah an meinen langen schwarzen Rock schmiegen. „Aber ich muss weg, weg aus Deutschland!“ Nur noch stammeln kann ich diese Worte, während mühsam zurückgehaltene Tränen über meine heißen Wangen laufen.
Der Beamte schaut auf die Tischplatte, räuspert sich kurz und fragt schließlich mit gedämpfter Stimme: „Aber was ist denn passiert?“
„Wenn ich nicht weggehe, sind wir bald tot!“ schluchze ich heraus und will eigentlich schreien: Bitte, bitte rettet uns!
Der Beamte schaut mich mit aufgerissenen Augen an. „Gut,“ sagt er nach einer Weile, setzt seine Brille wieder auf und greift zum Telefonhörer. Mein Deutsch ist nicht besonders gut und ich verstehe nicht so recht, wen er anruft und was da vor sich geht. Aber innerhalb weniger Minuten betreten ein Mann und eine Frau das Büro. Sie stellen sich als Mitarbeiter des Jugendamtes und als Frauenbeauftragte vor. Als wir schließlich eng zusammengerückt an einem kleinen Tisch sitzen, fordert mich die Frauenbeauftragte auf: „Jetzt erzählen Sie einmal!“
In holperigem Deutsch beginne ich zu sprechen, suche mit all den Worten, die ich kenne, nach so viel mehr Dingen, die ich erzählen möchte. Anfangs geht das mühselig, aber nach wenigen Minuten sprudelt es aus mir hervor. Ich vergesse jede Grammatik, aber das ist mir egal. Und ich erzähle alles.
Jahrelang verschwiegene Ereignisse stürzen mir über die Lippen, bis der Wasserfall meiner Worte irgendwann zu einem Rinnsal verebbt. „Bitte, bitte, nicht zurück zu meinem Mann.“
Erschöpft, leer und müde sitze ich zusammengesunken wie ein schlaffer Ball, aus dem jegliche Luft entwichen ist, auf meinem Stuhl. Noch nie habe ich so viele Sätze hintereinander gesprochen, noch nie hat mir jemand so lange zugehört, ohne mich zu unterbrechen.
Diese fremden Menschen neben mir am Tisch starren mich an, meine Kinder starren mich an. Niemand sagt etwas, bis nach einem langen Moment bleierner Stille ein „So“ aus dem Behördenmitarbeiter hervorbricht.
„Natürlich werden Sie nicht abgeschoben, aber Sie müssen auch nicht zurück in diese Familie. Wir können Sie in ein Frauenhaus bringen. Das ist ein Schutzhaus für Frauen, wo Sie zunächst mit Ihren Kindern unterkommen können.“ „Ja, da will ich hin“, sage ich hastig, ohne lange zu überlegen und denke „Hauptsache weg“.
Mittlerweile hat sich eine Mitarbeiterin der Beratungsstelle neben mich gesetzt. Sie erklärt mir etwas von Gesetzen, Verordnungen und Möglichkeiten für mich und die Kinder. So viele Worte, die ich noch nie gehört habe. Ich verstehe kaum die Zusammenhänge. Es wird viel telefoniert. Aus den Worten höre ich heraus, dass es schwierig ist, so schnell einen Platz in einem Frauenhaus zu finden. Panik kriecht mir in den Nacken. Das Herz klopft mir bis zum Hals. Wie weggeblasen ist der kleine Hauch Hoffnung, und ich höre mich schreien: „Ich kann vielleicht morgen überleben, aber übermorgen nicht mehr – wir werden alle drei sterben!“
Es wird weiter telefoniert und mich umschwirren Satzfetzen. Ein Frauenhaus in Süddeutschland kann uns aufnehmen, aber erst am Montag. Heute ist Donnerstag. Bis dahin kann ich in ein Frauenhaus nicht weit weg von hier. So nah am bisherigen Wohnort sei das zwar nicht ideal, aber nur über das Wochenende würde es gehen. Mir ist alles gleich. Ich will nur weg, weg aus dieser Familie, weg von diesem Mann, weg von diesen Schlägen, weg von diesem Hass.
„Alles klar,“ sagt schließlich der Mann von der Behörde, „Aus dem Frauenhaus kann Sie leider niemand abholen – aber wir organisieren den Transport.“
Er lächelt mir aufmunternd zu: „Was Sie schaffen müssen, ist morgen sicher und heil aus dem Haus zu kommen und möglichst alle Papiere mitzubringen. Ist das möglich?“ Ich nicke stumm.
Erschöpft, aber mit festen Schritten gehe ich mit meinen Kindern nach Hause. Erst jetzt fällt mir auf, dass Sophia und Lukas die ganze Zeit keinen Ton gesagt haben.
Das Buch erschien am 17.10.2016 im Gütersloher Verlagshaus.
ISBN 978-3-579-08652-1
Preis 19.99 €
gebunden mit Schutzumschlag
Links/Infos zum Thema
- Für Frauen, die von häuslicher Gewalt bedroht sind, gibt es ein bundesweites Hilfetelefon. Unter der kostenlosen Hotline 0800-0116016 bekommen Frauen eine erste Beratung im Chat oder per Email. Diese ist in 15 Sprachen möglich.
Nähere Informationen finden sich unter www.hilfetelefon.de
- Wer akut nach einem Frauenhaus in der Nähe sucht, findet auf der Webseite www.frauenhauskoordination.de eine Telefonnummer zur Kontaktaufnahme.
- Schutz vor häuslicher Gewalt und drohender Zwangsheirat von Minderjährigen bieten Mädchenhäuser. Infos dazu auch über die Hotline des Hilfetelefons 0800-0116016.